Ex-HHG-Lehrer zum „Friedensprojekt Europa“
Der ehemalige HHG-Lehrer Klaus Kayser (92) sprach auf dem Friedensprojekt am „Monday for Europe“ (6.Mai) die einleitenden Worte zu einer Podiumsdiskussion mit Europa-Spitzenkandidaten zur EU-Wahl am 26. Mai.
Als Kriegsteilnehmer berichtete er als authentischer Augenzeuge über das fremdbestimmte Leben als Jugendlicher und Soldat in der NS-Zeit und über die Wohltat, als das Grundgesetz der jungen Bundesrepublik in Kraft trat und endlich selbstbestimmtes Leben erlaubte.
Als Zeitzeuge eingeladen, bin ich heute in der festen Überzeugung hier hergekommen, dass die Erinnerung an die Zeit vor 1945 mitbewirkt hat, seit 74 Jahren in einer Friedenszeit zu leben. Das Grundgesetz und politische Rahmenbedingungen der Bundesrepublik Deutschland haben mir seitdem ermöglicht, mein Leben selbstbestimmt zu gestalten.
Vor 1945 lebte ich in einer Welt, ausgenommen mein Elternhaus, in der Gehorsam, Gehorchen erste Christen- und Bürgerpflicht zu sein schienen. Bei der Wehrmacht erfuhr ich, Denken den Pferden zu überlassen. Sie hätten größere Köpfe. Als Soldat musste ich 1944 dem Führer und Kanzler des Deutschen Reiches, Adolf Hitler, schwören, ihm unbedingten Gehorsam zu leisten. Ich durfte nicht erwachsen werden, aber ab meinem 16. Lebensjahr Kanonenfutter sein für eine Welt, die ich nicht wollte. Für die Verweigerung dieses Eides haben Menschen ihren Tod hingenommen.
Anfang Mai 1945 kam ich nach einem turbulenten Rückzug, der in Oppenheim am Rhein begonnen hatte, am Schliersee in Bayern an, Mitglied einer sich auflösenden Truppe.
Unterwegs ständig aus der Luft von Tieffliegern angegriffen, waren wir am Boden der Übermacht der amerikanischen Panzer ausgesetzt.
Wir begegneten auf diesem Rückzug einer endlosen Kolonne von Häftlingen aus einem Konzentrationslager. Sie mussten sich, bewacht von SS-Soldaten, am Straßenrand in ihrer gestreiften Lagerkleidung, vom Regen durchnässt, mit Holzpantinen an den Füßen, in noch winterlicher Kälte durch den Matsch quälen, vermutlich ihrer Ermordung entgegen.
Eine andere in meinem Gedächtnis fest verankerte Situation erlebte ich, als wir, ein Trupp von wenigen Soldaten, nur mit Panzerfäusten bewaffnet, in der Nähe von Landsberg am Lech angesichts zahlreicher heranrollender Panzer unsere Stellung aufgeben mussten. Es gelang uns per beschlagnahmter Fahrräder, die Kettengeräusche der Panzer im Ohr, entlang des Ammersees, Abstand zu gewinnen. Wir kehrten total erschöpft bei Weilheim in einer am Wege liegenden Kneipe ein, erhielten zu Trinken und aßen von unserer Marschverpflegung. Plötzlich öffnete sich die Kneipentür und zwei Männer, vorschriftsmäßig uniformiert, mit Stahlhelmen auf dem Kopf und einem Schild auf der Brust, mit einer Kette um den Hals befestigt, bewaffnet mit Maschinenpistolen: „Kettenhunde“, sprich Feldgendarmerie. Mit knarrender Stimmte rief einer der beiden Männer in den Raum: „Marschpapiere!“ Wir hatten keine. Wer hätte sie uns auch ausstellen können? Für die Feldgendarme waren wir jetzt Deserteure und gehörten vor ein Standgericht, dessen Urteil schon im vorhinein feststand. In meiner Not habe ich sie angeschrien und aufgefordert, ihren Kopf doch nochmal nach draußen zu stecken, dann könnten sie Kettengeräusche der sich nähernden amerikanischen Panzer hören. Sie taten es, stiegen anschließend auf ihr Motorrad bzw. in den Beiwagen und wurden nicht mehr gesehen.
Am Schliersee war zwar der Krieg für uns zu Ende, aber befreit fühlten wir uns noch nicht. Niemand war da, der uns gesagt oder befohlen hätte, was in dieser Situation zu tun sei. Zu Dritt verbrannten wir schließlich unsere Uniformen und übergaben auch die total verlauste Unterwäsche dem Feuer. Im Tausch gegen ein intaktes Radio zeigte sich eine Bäuerin bereit, uns aus dem Fundus ihres Mannes Zivilkleidung zu überlassen.
Noch war die Front vor uns. Wir wollten uns zunächst im Wald verstecken, um uns von der Front überrollen zu lassen. Wir erinnerten uns aber bald schon, dass wir in Zivilkleidung nicht mehr als Soldaten, sondern als Partisanen eingeschätzt würden, für die die Haager Landkriegsverordnung von 1907 nicht galt. Wir kehrten auf die Straße zurück. Als wir die ersten Amerikaner erkennen konnten, hoben wir die Arme und gingen langsam auf sie zu. Es gelang mir, einer Kriegsgefangenschaft zu entgehen.
Ich plagte mich tagsüber zu Fuß von Holzkirchen aus auf der Autobahn nach München, durch München hindurch, an Augsburg vorbei. Schließlich kam ich in die Nähe von Ulm. In Heidenheim lebten, wie mir spontan einfiel, Freunde meiner Eltern. Nach vielem Herumfragen fand ich schließlich ihre Wohnung. Sie stellten mir am nächsten Tag, wenn auch schweren Herzens, ihr Familien-Fahrrad zur Verfügung, mit dem ich von Heidenheim aus auf verschlungenen Wegen schließlich in Arnsberg landete. Im Café Schmidt am Gutenbergplatz, eine Tochter aus dem Hause arbeitete in der Apotheke meines Vaters, erfuhr ich, dass meine Eltern Bomben und Kriegsende heil überstanden hätten. Mein Elternhaus wäre aber noch von den Amerikanern besetzt. Ich stieg auf das Fahrrad, fuhr über den Bockstall nach Breitenbruch, passierte die Möhnetalsperre, ließ Soest rechts liegen und war schließlich am Freitag vor Pfingsten wieder zuhause. Im Gepäck nur noch: nie wieder Krieg.
Lassen Sie mich abschließend folgendes Erlebnis in der Jetztzeit erzählen:
Am Karfreitag dieses Jahres bin ich allein den Arnsberger Kreuzweg gegangen, auch in Gedanken über das, was ich heute zur Einleitung dieser Veranstaltung sagen wollte. Oben auf dem Kreuzberg angekommen, sah ich Helfer das diesjährige Osterfeuer vorbereiten. Auf einer Bank ruhten sich ein älterer und ein jüngerer Mann offensichtlich von getaner Arbeit aus. Ich bekam während einer kurzen Rast von ihrem Gespräch mit, dass der Ältere dem Jüngeren erklären wollte, was er von den Demonstrationen 15-/16-Jähriger zum Klimawandel hielt. Insbesondere die Verwendung der Unterrichtszeit machte für ihn das Ganze fragwürdig: Schulschwänzer. Ich mischte mich ungefragt ein. Wir verständigten uns schließlich darauf, dass zumindest das Pauschalurteil unangebracht war. Der Ältere fügte abschließend hinzu, der Protest käme zu spät und habe daher keinen Zweck.
Ich denke, wir können dieses „zu spät“ für die noch nicht Wahlberechtigten und auch für uns nicht gelten lassen.
Mich erinnerte dieses Erlebnis an den 24. März 1933, als mit den Stimmen des Zentrums das Ermächtigungsgesetz im Reichstag verabschiedet wurde. Es hob die Gewaltenteilung auf und eröffnete damit Hitler den Auf- und Ausbau seiner Diktatur, deren Zielsetzung man mindestens seit 1925 kennen konnte.
Dieser Beginn des „zu spät“ wurde für viele die Rechtfertigung der Übernahme einer Zuschauerrolle in der Folgezeit. 12 Jahre alt, erlebte ich den 9. November 1938, die sogenannte „Reichskristallnacht“. In Hamm brannte die Synagoge, man schaute zu oder verdrückte sich.
Gleiches ereignete sich, als das Delikatessengeschäft eines jüdischen Inhabers geplündert wurde. Man schaute weg, beteiligte sich sogar oder zog sich diskret zurück.
Wir sind am 26. Mai bei der Europawahl aufgerufen, wieder unsere politische Verantwortung für uns und die Nachkommenden wahrzunehmen.
Ein einiges und dadurch starkes Europa wird mittlerweile für die Erhaltung der Welt gebraucht, die wir uns für unsere Kinder und Enkel wünschen.
Ich hoffe, bei deren möglicher Nachfrage bezüglich der Wahrnehmung unserer Verantwortung für die Welt, in der sie leben müssen, eine andere Antwort parat zu haben, als meine Großeltern- und Eltern-Generation – wenn sie denn überhaupt eine hatten.
Klaus Kayser (*1.6.1926) unterrichtete am früheren Jungengymnasium [heute HHG] in Bottrop Religion und Geschichte. 1972 nahm er das Angebot an, in Arnsberg Schulleiter am Gymnasium Laurentianum zu werden. Nach seiner Pensionierung 1990 half er beim Aufbau des Norbertusgymnasiums in kirchlicher Trägerschaft in Magdeburg – und auch beim Aufbau des Gymnasiums Jena stand Klaus Kayser beratend zur Seite. Seine Gedanken und Erlebnisse fasste er in einem Buch zusammen, das 2015 unter dem Titel „1944 – Ein Jahr für ein ganzes Leben“ erschienen ist.
siehe auch frühere Berichte:
➣ https://hhg-bottrop.de/schueleraustausch-beginnt-mit-hhg/
➣ https://hhg-bottrop.de/ein-wiedersehen-nach-fuenfzig-jahren/
➣ https://hhg-bottrop.de/ex-schueler-besuchen-alten-lehrer/
„Wir sind am 26. Mai bei der Europawahl aufgerufen, wieder unsere politische Verantwortung für uns und die Nachkommenden wahrzunehmen.“
Dies ist die „pragmatisch-schlichte“ Aufforderung von Klaus Kayser, die zunächst einmal ohne inhaltliche Details auskommt.
Vielleicht reicht ja auch sein Hinweis: „ein einiges und dadurch starkes Europa wird mittlerweile für die Erhaltung der Welt gebraucht, die wir uns für unsere Kinder und Enkel wünschen“.
Angesichts des z.T. überbordenden Pathos’ und des „Tremolo in den Europa-Reden“ des EU-Wahlkampfes sind die vorliegenden Ausführungen durch die sachlich-beeindruckende Erinnerung daran, was Nationalismus auf der einen Seite – und was ein geeintes Europa auf der anderen Seite bisher bewirkt haben, so bedeutungsvoll und so glaubhaft.
Trotz aller Skepsis den Auswirkungen einer ausgreifenden Marktlogik und einem aggressiven Renditestreben gegenüber, trotz der auseinanderdriftenden Vermögensentwicklung und Deklassierung immer breiterer Gesellschaftsschichten, die dazu beitragen unsere Gesellschaft sozial und kulturell auseinderzureißen, sollten wir uns nicht einreden lassen, eine Überwindung der Krisenerscheinungen unseres politischen und wirtschaftlichen Systems in einer rückwärtsgewandten Heimat- und Identitätsideologie zu suchen, die mit ihren nationalen Tönen weitere Ressentiments und Ausgrenzungen propagiert.
Wir brauchen ein solidarisches Europa, das sich zu den humanitären Wurzel des „Abendlandes“ bekennt. Die anstehenden Wahlen können dazu beitragen !
Dem kann ich nur voll zustimmen. Sehr gut auf den Punkt gebracht. Aber nur wählen gehen und für Europa sein reicht bei weitem nicht,ohne persönliches Engagement für humane Ziele im Konkreten.
Rainer Opitz
Lieber Klaus Kayser. Durch Zufall haben wir vor einer guten Stunde miteinander telefoniert. Du hast mir von diesem Beitrag erzählt und ich habe ihn sofort aufgerufen und gelesen.
Wenn du dich ganz knapp vor deinem 93. Lebensjahr immer noch engagierst,dann kann keiner sagen, jetzt ist es zu spät. Es ist nie zu spät, wenn wir gemeinsam für positive humane Veränderungen kämpfen. Jeder auf seine Art und seinen Möglichkeiten. Danke. Nur Mut.
Rainer Opitz
Lieber Klaus, ich darf Charly Heipel in vollem Umfang bestätigen und ergänzen: Du hast mit uns Schülern offen über Deine Erfahrungen in der NS-Zeit und als 18jähriger Soldat gesprochen. Das geschah zu einer Zeit, in der die NS-Vergangenheit vielfach tabuisiert war und auch am damaligen Jungengymnasium Bottrop alte Nazis wieder Fuß gefasst hatten (Abitur 1966 II). Du hast uns sensibilisiert und aufgefordert: „ Schaut nicht weg, bringt Euch ein, engagiert Euch für unsere Demokratie!“ Ich legen allen Lesern dieses Vortragsmanuskriptes die Lektüre des Buches von Klaus Kayser “1944 –Ein Jahr für ein ganzes Leben. Wie 1944 aus mir gemacht hat, was ich bin“ ans Herz. Danke, Klaus, für Dein Zeugnis als Lehrer und Schulleiter im Westen, als Schulbegründer im Osten unseres Landes und als „Initiator und Begleiter“ eines Hospizes in Arnsberg bis zum heutigen Tag!
Hans-Werner
Lieber Klaus,habe deinen Artikel mit großem Interesse gelesen. Dein Einsatz für Recht und Gerechtigkeit haben,trotz weniger Jahre Schulzeit,mein Leben mitgeprägt.Deine dramatischen Jugendjahre waren mir so garnicht bekannt.Gratuliere zum Einsatz im Friedensprojekt.Du bist immer glaubhaft und Vorbild gewesen. Mit den besten Grüßen und Wünschen Charly!