Ex-HHG-Schüler [Päd.-Prof.] zum Lehrerberuf
Wie der Lehrerberuf wieder attraktiver wird
Vertrauen statt Vorschriften und Sanktionen: Bildungsforscher Heinz-Elmar Tenorth fordert, dass Schulen mehr Autonomie erhalten / Beatrix Fricke / © Berliner Morgenpost 01.09.2018
Ist der Lehrermangel ein typisch deutsches Problem? Sind die Bedenken Quereinsteigern gegenüber gerechtfertigt? Welche Alternativen gibt es, um Engpässe im Schulsystem aufzufangen? Darüber sprachen wir mit Prof. Dr. Heinz-Elmar Tenorth, Experte für Historische Bildungsforschung. Von 1991 bis 2011 lehrte er am erziehungswissenschaftlichen Institut der Humboldt Universität.
Herr. Prof. Tenorth, kein Tag vergeht, an dem nicht über die Personalnot an den Schulen geklagt wird. Wie konnte es überhaupt dazu kommen?
Tatsächlich ist der strukturelle Lehrermangel gravierend. In naher Zukunft werden Prognosen zufolge bundesweit 50.000 Lehrer fehlen, insbesondere an Grundschulen und berufsbildenden Schulen. Leider hat es lange Zeit eine gewisse Nonchalance auf Seiten der Politik gegeben, Warnungen wurden als Propaganda der Lehrerverbände dargestellt. Doch auch wenn der Mangel an Lehramtsabsolventen berechenbar ist, ist er nicht so schnell steuerbar und Lücken sind schwer zu schließen.
Warum?
Etwa ein Drittel der Lehramtsstudenten scheidet während des Studiums aus. Es ist ja durchaus gut, wenn ein Student erkennt, dass der Beruf doch nicht passt. Doch Fakt ist auch, dass der Lehrerberuf nicht der attraktivste ist. Die Zahl der Studierenden ist in den vergangenen Jahren auf ein Rekordniveau von 2,8 Millionen gewachsen, doch die Zahl der Lehramtstudenten stagniert. Ich laste das auch der Reform der Lehrerbildung an. Sie hat dazu geführt, dass universitären Ausbildung zum Versuchsfeld wurde, die Fachkompetenz leidet, auch die Einführung in die Praxis während des Referendariats und in der Berufseinmündung kommt zu kurz. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an Lehrer durch höhere Qualitätsstandards, Migration, zunehmende Geburtenzahlen, die digitale Bildung, Inklusionserwartungen. Mit anderen Worten: Die Arbeitsbedingungen sind schwierig, das Ansehen ist mäßig, die Bezahlung nicht besonders gut. Das wertet den Lehrerberuf ab. Und das ist in anderen Ländern anders.
Zum Beispiel?
In der Schweiz und in Skandinavien sind die Schulen besser in den Gemeinden verankert und das Personal genießt ein hohes Ansehen. In Finnland gibt es für das Lehramtsstudium sogar Zulassungsbegrenzungen wie bei uns in der Medizin. Das hat viel mit Schulpolitik zu tun, insbesondere der Autonomie, die die Schulen dort genießen. Das gab es früher auch in Deutschland, selbst bei preußischen Gymnasien: Außer der Abiturregulierung gab es keine detaillierten Regularien – und es hat funktioniert. Heute jedoch wacht die Bildungsverwaltung wie ein Anstaltsdirektor über allem, es wird hineinregiert und sanktioniert. Wir müssen unsere Schulen wieder autonomer machen, sowohl finanziell als auch personell und curricular.
Was würde das nützen?
Lehrer wollen gestalten, nicht ständig reguliert und sanktioniert werden. Das würde dem Lehrerberuf auch wieder mehr Ansehen verschaffen. Ich schlage vor, dass Politik und Verwaltung ein Jahr lang mal gar nichts tun, sondern einfach nur den Schulen und Lehrern vertrauen. Es sollte keine neuen Maßnahmen und irritierende Interventionen geben, sondern nur Unterstützung, Förderung, realistische Zielvereinbarungen – und Entlastung. Was Schule heute leisten soll, ist völlig übersteigert. Die Schule ist nicht der Reparaturbetrieb aller Übel der Gesellschaft.
Erwarten wir also zu viel vom Schulsystem?
Zumindest wird vom einzelnen Lehrer zu viel erwartet. Aber schon die Minimalbedingungen für kultivierten Unterricht sind nicht überall gewährleistet: dass eine Schule sauber, sicher und ordentlich ist, dass das Sekretariat erreichbar ist, dass Unterstützungspersonal existiert. Und auch die Eltern könnten noch mehr unterstützen. Sie können am ehesten dafür sorgen, dass das Regiment der Schule funktioniert: schon indem sie ihre Kinder zu Pünktlichkeit, Ordnung und Fleiß anhalten, sie satt zur Schule schicken und die schulische Arbeit und die Lehrer wertschätzen und unterstützen. Das könnte noch ausgebaut werden. Man darf nicht alles vom Staat erwarten. Die Schule kann nicht allein die Erziehungsleistung erbringen. Es wäre auch schön, wenn die Eltern nicht nur die Karriere ihrer eigenen Sprösslinge im Blick haben, sondern gemeinschaftlich denken und fordern.
Trotz aller Widrigkeiten stellen sich Quereinsteiger dem Schulsystem zur Verfügung – und ernten statt Anerkennung häufig Misstrauen oder sogar Ablehnung. Ist das gerechtfertigt?
Ich verstehe die Abwehr von Gewerkschaften und Verbänden. Die erreichte Professionalisierung durch Studium, Referendariat und Eingewöhnung in der Schule ist wichtig. Aber es ist ja nicht so, dass mit Quereinsteigern völlig inkompetente Menschen in die Klassen geschickt werden. Wenn ich einen Physiker im Fach Physik einstelle, bringt er die notwendige Fachkompetenz mit. Wenn ich einen Muttersprachler beschäftige, kann er durch seine Sprach- und Kulturkenntnisse das ganze Fach befruchten. Ein Ingenieur für die Berufsschule ist praxiserfahrener als ein Lehrer, der vor 20 Jahren studiert hat.
Also sind die Bedenken haltlos?
Nein, das nicht. Die Quereinsteiger sind derzeit unentbehrlich, weil sie in einer dramatischen Notlage dafür sorgen, dass Schule überhaupt stattfinden kann. Aber ihr Einsatz muss eine zeitbezogene Maßnahme sein. Und sie müssen unbedingt nachqualifiziert werden und zum Beispiel Mentoren mit ausreichender Zeit an die Seite gestellt bekommen. Das passiert aktuell nicht hinreichend und damit richtet man meines Erachtens Unheil an. Noch bedenklicher finde ich den Einsatz der LovLs. Da muss man fachlich und pädagogisch nachqualifizieren.
Wie soll das gehen?
Im Moment muss man vor allem helfen, dass die Quereinsteiger im alltäglich drohenden Chaos überleben. Schüler und Eltern müssen nachsichtig sein, erfahrene Lehrer die neuen unterstützen und selbst dafür Anerkennung finden. Man muss ja lernen, die Schule als Lerngelegenheit zu gestalten, die pädagogischen Möglichkeiten zu nutzen, um das drohende Chaos zu organisieren – angefangen bei Sitzordnungen über Lerngruppen, Arbeitsabläufe und die Konstruktion anregender Aufgaben. Das muss ein Neueinsteiger lernen und das kann man auch nachlernen – übrigens am besten sowieso in der schulischen Praxis.
