Ex-HHG-Schüler (Päd.-Prof.) zur Schule in Deutschland

»Zum Scheitern verurteilt«

Deutschlands Schulen brauchen mehr Geld, zentrale Standards und Autonomie, sagt der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth – und mehr Kreativität, um gerechter zu werden / Publik-Forum vom 7.10.2022

Publik-Forum: Herr Tenorth, über das Bildungssystem wird diskutiert, seit es Schulen gibt. Nicht erst seit Corona macht auch wieder der Begriff des Bildungsnotstandes die Runde. Wo stehen wir wirklich?

Heinz-Elmar Tenorth: Wir stehen nicht gut da. 20 Prozent der Lernenden verlassen die Schule heute ohne ausreichende Qualifikationen und Kompetenzen. Diese Zahl ist seit Jahren etwa konstant, sie wird infolge der Corona-Schulschließungen voraussichtlich noch ansteigen. Mindestens ein Fünftel der jungen Menschen in Deutschland leidet also unter Bildungsarmut. Das Bildungssystem hat qualitative Defizite, ist nicht gerecht und wird schlecht gesteuert.

Wo liegen die Ursachen?

Tenorth: Das fängt bei der Ausstattung an, die regional allerdings sehr unterschiedlich ist. Bundesweit gibt es einen Renovierungsstau von mehreren Milliarden Euro an Schulen und Universitäten. Außerdem gibt es immer weniger qualifizierte Lehrer, vielfach gar keinen Nachwuchs mehr. An manchen Berliner Schulen besteht die Hälfte des Kollegiums aus Quereinsteigern ohne pädagogische Ausbildung.

Nach den verheerenden Ergebnissen bei der Pisa-Studie im Jahr 2000 wurden Reformen angestoßen. Sie waren einer der beratenden Experten. Warum waren die Verbesserungen nicht nachhaltig?

Tenorth: Weil die Kultusminister kein angemessenes Mindestniveau festgelegt haben, wie wir es empfohlen hatten. Stattdessen wurden Regeln und Standards formuliert, ohne sicherzustellen, dass sie umgesetzt wurden und überhaupt realisierbar waren.

Die Bundesrepublik hat nach 1945, anders als etwa Frankreich, auf egalitäre statt elitäre Strukturen im Bildungswesen gesetzt, verbunden mit dem Versprechen »Aufstieg durch Bildung«. Soziale Herkunft beeinflusst aber nach wie vor die Bildungschancen. Wurde das Versprechen nicht eingelöst?

Tenorth: Bis in die 1970er-Jahre hinein gab es große Bildungserfolge. Meine Biografie dient als Beispiel: Ich bin 1944 geboren, meine Mutter hatte keine Berufsausbildung, mein Vater war Arbeiter. Dass ich Professor wurde, beweist, dass Aufstieg möglich war. Aber von den 100 Kindern, die im Ruhrgebiet mit mir zusammen auf der Grundschule waren, hat nur ein weiterer Schüler Abitur gemacht. Die Hälfte hat nicht einmal eine Berufsausbildung absolviert – und das Leben auch so gemeistert.

Also war sozialer Aufstieg durch Bildung schon immer ein Mythos?

Tenorth: Historisch gesehen ja. Auch von der sogenannten Bildungsexpansion nach 1964 haben Arbeiterkinder jedenfalls weniger profitiert als erhofft. Die Bildungsgewinner kamen aus bürgerlichen Familien, die nun alle ihre Kinder länger lernen ließen, nicht nur den ältesten Sohn. Dennoch: Auch für Kinder aus anderen sozialen Schichten ging die Bildungskurve bis in die 1970er-Jahre hinein nach oben.

Und dann?

Tenorth: Danach gab es einen deutlichen Bruch. Der Reformeifer war erlahmt, Helmut Kohl strich gleich im ersten Jahr seiner Kanzlerschaft das Schüler-BAföG. Gleichzeitig wurden die Bafög-Bedingungen für Studierende verschlechtert. Deshalb entscheidet die soziale Herkunft heute wieder stärker über den Bildungserfolg.

Die Bildungsgewinner von heute sind Mädchen, die Verlierer vor allem Jungs aus migrantischen Milieus. Wird zu wenig getan, um sie zu integrieren? Oder ist das Bildungsinteresse der Eltern ausschlaggebend?

Tenorth: Das familiäre Bildungsinteresse ist ein wichtiger Punkt. Jede Reform im Bildungswesen, die nicht auf enge Kooperation mit den Eltern setzt, ist zum Scheitern verurteilt. Vor allem Schulen, die mit Familien aus nicht bürgerlichen Milieus zu tun haben, müssen sich eng mit den Eltern und ihrem Umfeld vernetzen. Gute Schulen in sozialen Brennpunkten zeichnen sich beispielsweise schon dadurch aus, dass Lehrer und Schulleitung um fünf nach acht wissen, welche Schüler fehlen, und sofort veranlassen, dass die Eltern angerufen werden. Wenn das nicht passiert, gehen manche Kinder gar nicht mehr zur Schule. Tatsächlich ist Absentismus ein großes Problem.

Auf der einen Seite gibt es viele Schulabbrecher. Gleichzeitig machen immer mehr Schüler Abitur. Wie passt das zusammen?

Tenorth: In der Politik und auch in internationalen Vergleichsstudien gilt das Abitur als zentrale Messgröße für den Erfolg des Bildungssystems und für sozialen Aufstieg. Die Zunahme der Abiturientenzahl ist also politisch gewollt. Das Abitur wird sozusagen zum Menschenrecht erklärt, Ungleichheit wird undenkbar. Dabei schafft Bildung immer Differenz.

Was haben Sie gegen höhere Bildung?

Tenorth: Grundsätzlich nichts, aber Bildung kann man nicht kollektiv verordnen. Sie bleibt eine individuelle Angelegenheit. Außerdem ist die Fixierung auf das Abitur aberwitzig. Erstens wird sie durch eine Absenkung der Leistungsanforderungen erkauft. Was ist das Abitur dann noch wert? Außerdem werden alle anderen Schulabschlüsse und Ausbildungswege in der öffentlichen Wahrnehmung abgewertet. Entsprechend werden die Zugangsvoraussetzungen für viele Berufe nach oben gesetzt. Für eine Ausbildung zur Bankkauffrau reicht der Realschulabschluss in der Regel nicht mehr aus, obwohl es dafür keine fachlichen Gründe gibt. Wer heute kein Abitur hat, gilt als Mensch zweiter Klasse. Dabei verdienen Handwerker oft mehr als Akademiker – und mehr als 25 Prozent der Hochschulabsolventen arbeiten unter ihrem Qualifikationsniveau. Da wird mehr Enttäuschung als Aufstiegsgewinn erzeugt.

In Deutschland sind die Bundesländer für Bildung zuständig, daraus ergibt sich ein Flickenteppich an Konzepten. Wären die Schulen besser – oder zumindest gerechter –, wenn sie einheitlich organisiert würden?

Tenorth: Auch einheitlich kann man viel falsch machen, und der Bund ist auch nicht viel klüger als die Länder. Die Niederlande fahren sehr gut mit einem System, das den Schulen einen hohen Grad an Autonomie gewährt und gleichzeitig zentrale Standards festlegt. Hinzu kommt, dass die Schulen dort besser ausgestattet sind. Das ermöglicht ihnen, eigene didaktische Konzepte zu entwickeln und umzusetzen. Und es fördert den Wettbewerb unter den Schulen. So etwas würde ich mir auch für Deutschland wünschen.

Was kann Schule zwischen Wissensvermittlung und Digitalisierung überhaupt leisten?

Tenorth: Lernen bleibt ein Prozess individueller Aneignung von Welt durch Fachunterricht. Das ändert sich durch die Digitalisierung nicht. Will ich Kindern erklären, was Fake News sind, muss ich das im Kontext des Geschichts- oder Politikunterrichts tun. Will ich erläutern, was Algorithmen bewirken, muss ich zunächst vermitteln, wie der Algorithmus funktioniert. Digitalisierung sollte kein eigenes Fach sein, sondern überall einfließen. Unsere Lehrpläne sind so offen und variabel, dass niemand sagen kann, das gehe nicht.

Wird der Digitalisierung in der Schule eine zu große Bedeutung beigemessen?

Tenorth: Sie wird zu isoliert gesehen. Man tut so, als lebten wir in einer neuen Welt, in der es die alten Konflikte, Strukturen und Probleme nicht mehr gibt. Wir leben aber zunächst in einer Klassengesellschaft mit Hierarchien und gesellschaftlichen Spannungen. In dieser Welt müssen sich die Lernenden zurechtfinden. Digitale Medien sind dabei Hilfsmittel. Sie ersetzen nicht die Kenntnis der Welt, wie sie wirklich ist.

Das Verfassungsgericht hat in seinem Beschluss zur Rechtmäßigkeit von Schulschließungen während Corona Mindeststandards für das Bildungswesen gefordert. Zu Recht?

Tenorth: Was das Verfassungsgericht da gesagt hat, ist revolutionär. Es fordert sogenannte unverzichtbare Mindeststandards, die gewährleisten, dass jeder Schüler in der Schule Kompetenzen erlernen muss, die ihm ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Er oder sie soll, so lese ich das, den Lebensunterhalt selbst verdienen können und politisch und sozial urteilsfähig sein. Die Frage ist: Welche Bedingungen müssen dafür gegeben sein? Das kann auch in der Bildungsforschung bisher niemand klar beantworten. Klar ist: Es reicht nicht aus, Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Da hat uns das Bundesverfassungsgericht wirklich etwas aufgegeben.

Interview: Ulrike Scheffer und Nana Gerritzen

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Heinz-Elmar Tenorth ist emeritierter Professor für Historische Erziehungswissenschaft am Institut für Allgemeine Pädagogik der Humboldt-Universität zu Berlin. Er machte 1965 Abitur am Heinrich-Heine Gymnasium Bottrop – damals noch Städtisches Jungengymnasium. 

Quelle: https://www.publik-forum.de/Politik-Gesellschaft/zum-scheitern-verurteilt