Ex-HHG-Schüler – Pädagogik-Prof. – zum „Mythos“ Wilhelm von Humboldt

Die Vergötterung

Wilhelm von Humboldt wird seit je missverstanden. Kritische Bilanz eines Mythos.

Von Heinz-Elmar Tenorth / DIE ZEIT vom 22.6.2017

[Tenorth (geb. 1944) war Professor für Historische Bildungsforschung an der Humboldt Universität zu Berlin. Er machte 1965 sein Abitur am Heinrich-Heine Gymnasium Bottrop – damals noch Städtisches Jungengymnasium]

Über fehlenden Nachruhm kann er nicht klagen: Der Name Wilhelm von Humboldt ist – ebenso wie der seines jüngeren Bruders Alexander – jedem ein Begriff. Aber Wilhelm lebt offenbar nur noch als Mythos, man erinnert sich seiner nicht mehr als der gebildete Gelehrte, innovative Sprachforscher und souveräne Politiker, der er historisch war. Nicht als der von Goethe und Schiller geschätzte Gesprächspartner, nicht als der von konservativen preußischen Beamten als Liberaler gefürchteter Bildungsreformen. Wer war dieser Mann also wirklich, der vor genau 250 Jahren, am 22. Juni 1767, in eine Potsdamer Beamtendynastie hineingeboren wurde?

Wilhelm von Humboldt war »ein Preuße von Welt«, schreibt der Historiker Lothar Gail. Damit liegt er sicherlich richtiger als die Zeitschrift Cicero, die Humboldt kürzlich als »Rebell« feierte. Doch eine solche Haltung hätte sich mit Humboldt, dem aufgeklärten, gebildeten, zivilisierten Liberalen nicht vertragen. Auch verkennt dieses Attribut Humboldts Sinn für Realismus – besonders in seiner Bildungspolitik. Wer also aktuell meint, Humboldts Bildungsprogramm umstandslos für Kritik an Reformen ausbeuten zu können, hat ihn so wenig verstanden wie die Traditionalisten im frühen 20. Jahrhundert, die seine liberale Staatstheorie als Jugendsünde interpretierten. Dabei ist der historische Humboldt jenseits des Mythos die wahre Provokation, bildungstheoretisch, aber auch für die Bildungspolitik.

»Bildung« war nicht Humboldts einziges Thema, aber doch ein zentrales, alle Etappen seines Lebens von 1767 bis 1835 übergreifendes. Zunächst als ein Prozess der Selbstbildung, dann als Gegenstand seiner Schriften – kein Opus magnum, eher breit gestreut, nicht selten nur, wie er sie nennt, »Bruchstücke« —, nimmt die Frage der Bildung schließlich in seiner amtlichen Tätigkeit großen Raum ein.

Die Brüder Humboldt besuchten keine öffentliche Schule. Sie hatten aber prominente Privatlehrer, wie den Aufklärer Joachim Heinrich Campe, und sie lebten im Gespräch mit den Gebildeten ihrer Zeit. Mit Campe reiste Humboldt 1789 nach Paris, um die Revolution zu beobachten. Unzählige weitere »Bildungsreisen« folgen. Auch Humboldts Berufsleben war mobil: Nach dem Studium in Frankfurt/Oder arbeitet er als Jurist im Staatsdienst, als Diplomat in Rom, Wien und London, als Bildungsreformer in Berlin — und zwischendurch lebt er als Privatgelehrter fern vom Staat. Dabei sucht er die intellektuell inspirierenden Orte seiner Zeit auf: Göttingen, Jena, Paris, Madrid, Rom, Wien. Er nimmt teil an den Debatten der Klassik über Literatur und Philosophie und profiliert sich früh als ein distanzierter Beobachter seiner Welt, immer geleitet von der Frage, wie die Menschwerdung des Menschen legitimiert werden kann.

Humboldts Schriften dokumentieren die Breite seiner Themen: Die 1792 in Auszügen in Schillers Zeitschrift Thalia publizierten Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen zeigen den 25-Jährigen als einen für Deutschland bis heute singulären Denker des liberalen Staates. Später genießt Humboldt dafür im Ausland hohes Renommee; John Stuart Mill rezipiert ihn für sein Buch On Liberty, das 1859, mehr als 20 Jahre nach Humboldts Tod, erscheint.

Als politischer Denker propagiert Humboldt die Begrenzung des Staates auf die Garantie der Sicherheit der Bürger und plädiert zugleich für die Bildung der Nation, damit eine zivil-gesellschaftliche Praxis möglich wird. »Öffentliche Staatserziehung«, gar die Konstruktion von Gesinnungen durch den Staat sind ihm ein Gräuel.

Wenig später entsteht seine Theorie der Bildung. In diesem eher bruchstückhaften und doch klassisch gewordenen Text geht er von der Erwartung aus, dass die Bildung des Menschen nicht in der Innerlichkeit verbleibt, sondern in Staat und Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft die wirklichen Aufgaben erkennt und besonders in der Sprache ihr genuines Medium hat. In Studien über das griechische Altertum schon 1793 präsent, bearbeitet der polyglotte Humboldt sprachwissenschaftliche Themen kontinuierlich bis ins hohe Alter. Das herausfordernde Modell der Sprache sah er im Griechischen, repräsentiere es doch Literatur und Ästhetik, Politik und Praxis zugleich und in selten dichter Überlieferung.

In seiner kurzen bildungspolitischen Tätigkeit verband er Staatstheorie, Bildungsphilosophie und Sprachwissenschaft mit dem Ziel, Preußen durch Bildung aus der Krise von 1806 herauszuführen. Die Neugestaltung des Schulwesens im Geiste »allgemeiner Bildung« sollte über sprachliche, historische, mathematische und ästhetische Kenntnisse das »Lernen des Lernens« ermöglichen. Dafür konzipierte er eine neue Lehrerbildung und gründete 1810 eine Universität zu Berlin, um die Wissenschaften in Preußen insgesamt neu zu ordnen.

Diese kurze bildungspolitische Tätigkeit gab auch den Anlass, Humboldt zum umfassenden Bildungsreformer zu stilisieren, dem wir, so die Überlieferung, das Gymnasium und das Abitur, die Berliner Universität und die wahre Idee der modernen Hochschule verdanken, auch die schönen Prinzipien des »Neuhumanismus«, der »allgemeinen und gleichen Bildung«, das Postulat von »Einsamkeit und Freiheit«, der »Einheit von Forschung und Lehre«, der »Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden«, ja die Idee der »Bildung durch Wissenschaft«.

Aber das, man kann es selbst an Geburtstagen nicht übersehen, ist nicht der historische Humboldt, sondern eine Konstruktion. Der historische Humboldt trat als Bildungsreformer bereits 1810 zurück; seine Bildungspolitik wird spätestens 1816 beendet, als der auf Humboldts Arbeit aufbauende Schulgesetzentwurf abgelehnt wird; seine Philosophie ist umstritten.

Der Mythos Humboldt entsteht zuerst 1910 im Jubiläumsjahr der Berliner Universität. Eduard Spranger vor allem, ein einflussreicher Pädagoge, preist Humboldt als Bildungsphilosophen, Reformer und Erfinder der wahren »Idee der Universität«. Das war ebenso falsch wie die Praxis, Humboldt bis heute als »Allzweckwaffe« – so die Historikerin Sylvia Paletschek – bei allen bildungspolitischen Fragen einzusetzen.

Muss man Humboldt deshalb an den Mythos verloren geben? Zum Glück nicht. Man musste Humboldt nicht als Gründer der Berliner Universität »erfinden«, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts galt er unbestritten als der »eigentliche Gründer«. Und ihre Gründung hat ja wirklich er realisiert. Gegenteiliges sollte man nicht mehr behaupten. Die »Idee der Universität« und ihre bis heute beschworenen Elemente werden tatsächlich erst seit dem frühen 20. Jahrhundert in ihrer heute mythischen Form tradiert. Aber es ist die »deutsche Universität«, nicht die »Humboldtsche«, die dabei als »Idee« beschworen wird.

Für diese »deutsche Universität« sind zwei andere Philosophen eher von Bedeutung: Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Schleiermacher. Humboldt wurde lange kaum erwähnt, und wenn, dann eher kritisch. Der Soziologe René König nannte die Berliner Gründung gerade wegen Humboldts liberaler Staatstheorie die »Tragödie der deutschen Universität« – er schrieb dies wohlgemerkt 1935. Und der Philosoph Karl Jaspers lehnte 1961 die »Bildungsuniversität« ausdrücklich ab. Auch die Pädagogisierung der Elitenbildung im »Ideen«-Diskurs verkennt, dass Humboldt selbst eindeutig davor warnte.

Zugleich war die »Ideen«-Debatte stets eine Forderung von »Zweckfreiheit«, gegen »Ausbildung« und für Autonomie gegenüber dem Staat. Diese Forderung wurde zuerst gegen den demokratischen Staat von Weimar erhoben, deutlich weniger resistent gegen den NS-Staat, wieder mutig staatskritisch nach 1945 und heute kritisch gegen jede Bildungspolitik, die auch nur zaghaft an die Doppelaufgabe der Universität erinnert. Humboldts kluge Balance der Eigenlogik von Forschung mit einem »unmittelbaren Interesse des Staates« an der Elitenrekrutierung und -prüfung kommt heute nämlich ebenso wenig noch vor wie sein scharfes Plädoyer für das alleinige Berufungsrecht des Staates. Auch die Differenz von »Geistesfreiheit« und »politischer Freiheit« wird ignoriert.

Humboldt kannte zwar die Distanz zum Staat, aber weder er noch die Berliner Universität lebten je in Opposition zu ihm. Die »Idee« der Universität – sie ist in sich widersprüchlich und von der historischen Bildungspolitik Humboldts sowie der Realität der Ordinarien-Universität weit entfernt.

Ihre bis heute dominante Prägung gewann die »Idee der Universität« auch erst sehr spät – im Berlin des Kalten Krieges. Zum 150-jährigen Bestehen der Berliner Universität entbrannte darum 1960 ein scharfer Kampf. Die ostdeutsche Humboldt-Universität habe sich das Erbe widerrechtlich angeeignet, schimpfte die Freie Universität in ihrer Festschrift. Denn eigentlich sei sie doch nur die staatlich kujonierte »Kaderschmiede« des Sozialismus, ohne institutionelle Autonomie oder wissenschaftliche und geistige Freiheit, bedeute also Verrat an Humboldt und der »Idee« zugleich. Ganz anders die Humboldt- Universität und die DDR-Staatsführung: Sie sahen sich mit ihrem »politischen und kämpferischen Humanismus« als die einzigen und wahren Erben beider Humboldts, denn Alexander und Wilhelm symbolisierten die Einheit von Natur- und Geisteswissenschaften, und diese habe erst im wissenschaftlichen Sozialismus zu ihrer institutionellen Vollendung gefunden.

Erst in dieser deutsch-deutschen Konfrontation entstand der mächtige Mythos, weil Humboldt jetzt die Kampflinie markierte, an der sich nicht nur die Selbstbilder von Universitäten und Wissenschaften rieben, sondern auch die Identitäten zweier Nationen – bis 1990 der »wahre« Humboldt, der 1810 im Geiste der Reformen die Universität zum Aufbruch in eine bessere Welt geführt habe, endgültig und im Konsens zum Leitbild gemacht wurde. Doch erneut ist er primär nur Abwehrformel gegen alle Zugriffe, ob lokal, national oder europäisch. Der Mythos lebt.

Die Realität der deutschen Universität spielt dabei nie eine Rolle. Humboldts vermeintlich immer noch gültige Prinzipien werden sogar meist aus seinen Reflexionen Über die innere und äussere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin destilliert – ein Text, der bei der Universitätsgründung 1810 keine Rolle gespielt hat und der erst nach 1890 gefunden wurde.

Und, nicht zuletzt: Das deutsche Gymnasium hat Humboldt auch nicht erfunden. Er fand es als Reformprojekt lokaler Schulmänner bereits vor, ebenso wie das Abitur.

Was aber ist Humboldts Verdienst? Er hat die Bedeutung der Bildung im Lebenslauf gezeigt, und ihre Rolle in Schule und Universität. Die Gründung der Berliner Universität hat er durchsetzungsstark vorangetrieben, aber jenseits seiner Bildungsphilosophie, weil er diese bewusst hintanstellte. Und als es um Details ging, war er längst nicht mehr im Amt. Die aktuelle Realität des modernen Wissenschafts- und Bildungssystems hat er nicht einmal ahnen können. Ob (und wie) sich Humboldts Prinzipien aktualisieren lassen – das ist bisher ungeklärt. Schon jetzt hinterlässt eine Beschäftigung mit ihm aber wichtige Fragen: War es glücklich, seine liberale Bildungspolitik durch wohlfahrtsstaatliche Steuerung zu ersetzen? Sinnvoll, Etatismus und fürsorgliche Pädagogisierung an die Stelle von Selbstbildung und Eigenverantwortung treten zu lassen? Der aktuelle Mythos der Bildung, allumfassend und allseits zuständig, pädagogisiert und von Gleichheitssehnsucht gefesselt – auf Wilhelm von Humboldt kann er sich jedenfalls nicht berufen.