Ex-HHG-Schüler über den amerikanischen Schulalltag

Hand aufs Herz

Der amerikanische Schultag beginnt immer noch mit dem Fahneneid. Widerstand dagegen ist selten und wird hart bestraft. / Von Markus Günther / FAS 21.10.2018

Die Lautsprecher knisterten, das Morgenritual begann. Es war der 2. Oktober 2017. Aus dem Schulsekretariat wurde wie jeden Tag um kurz nach acht Uhr der Fahneneid in alle Klassenzimmer übertragen, in der Windfern High School am Stadtrand von Houston, Texas, standen die Lehrer und Schüler auf und sprachen im Chor mit: „Treue gelobe ich der Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika und der Republik, für die sie steht, eine Nation unter Gott, unteilbar, mit Freiheit und Gerechtigkeit für jedermann.“ Die 17 Jahre alte Schülerin India Landry aber hatte die Formel nicht mitgesprochen und war auch nicht aufgestanden, sondern war – zum wiederholten Male – demonstrativ sitzen geblieben. Diesmal fackelte die Schuldirektorin Martha Strother nicht lange: „Du fliegst raus!“, sagte sie und forderte Landry auf, unverzüglich ihre Sachen zu packen und zu gehen, andernfalls werde man die Polizei rufen und sie abführen lassen. „Wir sind hier nicht in der Football-Liga!“, rief die ebenfalls entrüstete Schulsekretärin der Schülerin noch nach, als diese das Gebäude verließ. Für den Rest der Woche wurde Landry vom Unterricht ausgeschlossen.

Mit der Anspielung auf die Protestaktionen von schwarzen Profi-Sportlern, die sich geweigert hatten, für die Nationalhymne aufzustehen, lag die Schulsekretärin nicht falsch. Auch die afroamerikanische Schülerin India Landry wollte mit ihrer Aktion ein Zeichen des Widerstands gegen die Verherrlichung einer Nation setzen, die sie für ungerecht und rassistisch hält. Aber ist eine solche Protestaktion vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt? Darf ein amerikanischer Schüler sich dem morgendlichen Fahneneid verweigern? Seit fast einem Jahr beschäftigt der Streit nun die amerikanische Justiz in verschiedenen Instanzen, nachdem Landry auf Schmerzensgeld für die erlittene Bestrafung geklagt hat. Gut möglich, dass der Oberste Gerichtshof in Washington bald ein neues Grundsatzurteil zu einem alten Streit fällen muss: Dürfen Schüler in den staatlichen Schulen gezwungen werden, einen Eid auf die amerikanische Fahne abzulegen?

„Ich habe das Gefühl, dass diese Flagge nicht für Gerechtigkeit und Freiheit steht, wenn ich mich in diesem Land so umschaue“, begründete India Landry später ihre Aktion, die sie als „stillen Protest gegen die Brutalität weißer Polizisten“ im Stile des Footballstars Colin Kaepernick verstanden wissen will. Der Justizminister des Staates Texas verweist dagegen auf ein Gesetz, das Schülern zwar die Möglichkeit gibt, sich vom Fahneneid befreien zu lassen, aber nur mit Einwilligung der Eltern und auf schriftlichen Antrag hin. 26 Bundesstaaten haben ähnliche Regelungen. Liegt eine Freistellung nicht vor, so Justizminister Ken Paxton, hat kein Schüler das Recht, sich spontan zu verweigern: „Das Aufsagen des Treueschwurs am Beginn eines jeden Schultages hat den lobenswerten Effekt, dass dadurch Respekt vor unserer Fahne und die patriotische Liebe zu unserem Land gestärkt werden.“ Umfragen in Texas zeigen, dass eine Mehrheit der Wähler das genauso sieht. Genau deshalb, meint Landrys Anwalt Randall Kallinen, hat der Justizminister so großes Interesse an dem Fall: „Das ist reine Politik. Wir stehen kurz vor den Kongresswahlen, und mit dem Thema sollen Wähler mobilisiert werden.“

Das könnte klappen, denn erfahrungsgemäß setzen Proteste gegen nationale Symbole in den Vereinigten Staaten große Emotionen frei. Das liegt vor allem daran, dass im Konfliktfall jeder Angriff auf ein nationales Symbol als mangelnder Respekt vor Soldaten und Veteranen interpretiert wird. So macht es Donald Trump, wenn er auf die protestierenden Footballprofis schimpft, und so macht es der Justizminister in Texas: „Mit dem Treueschwur erweisen wir nicht nur der Fahne Respekt, sondern vor allem denen, die unsere Freiheit verteidigen und dafür Tag für Tag ihr Leben aufs Spiel setzen.“

Im amerikanischen Schulalltag sind Konflikte um den Fahneneid rar. Für die allermeisten Schüler und ihre Eltern ist der morgendliche „Pledge of Allegiance“ auch heute noch eine Selbstverständlichkeit, eine würdige Tradition und Ausdruck eines gesunden Patriotismus. Nicht nur Umfragen zeigen eine überwältigende Unterstützung für den Fahneneid. Das Befremden, das man etwa als Deutscher im Angesicht des Fahnenkults empfinden könnte, wird von Amerikanern in der Regel nicht geteilt. Schon die Fünfjährigen lernen den Fahneneid in der Vorschulklasse auswendig. Sie legen die rechte Hand aufs Herz, wenn sie die Eidesformel aufsagen, und das Kind, das vom Lehrer ausgewählt wurde, die Fahne zu halten, ist stolz darauf. Teenager sind oft mit weniger Eifer bei der Sache und murmeln nur lustlos mit. Doch Fahne, Nationalhymne und Treueschwur sind ihnen bis dahin längst in Fleisch und Blut übergegangen. Wenn der erste Ton der Nationalhymne ertönt oder die ersten Worte des Fahneneids gesprochen werden, legt sich die Hand reflexartig aufs Herz.

Die schiere Präsenz nationaler Symbole und der Kanon patriotischer Referenzen durch alle Bevölkerungsschichten hindurch ist für Deutsche schwer vorstellbar. Die „Stars and Stripes“ hängen nicht nur in jedem Klassenzimmer und jedem Gerichtssaal, sondern auch in vielen privaten Vorgärten, in Kirchen und Museen, sie wehen auf Baustellen, Sportplätzen, Feuerwehrautos, Bürogebäuden und Einkaufszentren. Die Nationalhymne wird oft sogar vor Baseball-, Football- oder Basketball-Spielen von Kindern und Jugendlichen gesungen. Im Ferienlager beginnt der Tag mit dem Hochziehen der Fahne, dem Eid und dem Absingen der Hymne. Zu den zahlreichen patriotischen Feiertagen gehören nicht nur der Präsidententag (dritter Montag im Februar), der Unabhängigkeitstag (4. Juli), der Nationale Gedenktag für die Gefallenen (letzter Montag im Mai), der Kolumbustag (zweiter Montag im Oktober) und der Veteranengedenktag (11. November), sondern auch ein Feiertag, der ganz der amerikanischen Fahne gewidmet ist (14. Juni). Parteitage links wie rechts beginnen mit dem Fahneneid, und jede Rede endet mit der Beschwörungsformel „Gott schütze Amerika!“. Jedes Jahr werden in Amerika 150 Millionen amerikanische Flaggen verkauft, in Wahljahren kommen noch ein paar Millionen hinzu. Mehr Patriotismus geht kaum.

Anfechtungen des morgendlichen Fahneneids gab es in den letzten Jahrzehnten meistens mit Blick auf den Gottesbezug: „eine Nation unter Gott“. Nicht nur Atheisten tun sich mit der Formel schwer, auch die grundsätzliche Frage nach der Neutralität des Staates scheint hier berührt, so dass es immer mal wieder Proteste und Prozesse gibt, die meistens im Sande verlaufen. In staatlichen Schulen in den Vereinigten Staaten gibt es zwar (anders als etwa in Deutschland) grundsätzlich keinen Religionsunterricht und auch kein Morgengebet, weil das dem staatlichen Neutralitätsgebot in der Verfassung widersprechen würde. Andererseits ist der Gottesbezug im Fahneneid von Gerichten immer wieder legitimiert worden, genauso wie die Formel „Wir vertrauen auf Gott“ auf amerikanischen Geldscheinen und Münzen.

2004 verwarf der Supreme Court in Washington die Klage eines Atheisten aus Kalifornien, der die Rechte seiner Töchter dadurch verletzt sah, dass sie den Fahneneid zwar nicht selbst aufsagen musste, aber täglich den Worten „eine Nation unter Gott“ ausgesetzt war. 2010 und 2014 scheiterten ähnliche Klagen, die inzwischen meist von der Humanistischen Union, einer atheistischen Lobbygruppe, angestrengt werden. Gelegentlich gibt es eine linke Splittergruppe oder einen Leitartikel, der die komplette Abschaffung des Fahneneids fordert. Bisher hatten solche Vorhaben in den Vereinigten Staaten keine Aussicht auf Erfolg.

Früher waren es nicht Linke und Atheisten, die sich am Fahneneid stießen, sondern, im Gegenteil, religiöse Gruppen, die sich aus Gewissensgründen weigerten, einem Staat – oder genauen dem Symbol eines Staates – Treue zu schwören. Mennoniten und Zeugen Jehovas führten die ersten großen Prozesse gegen den Fahneneid und setzten sich nach langjährigen juristischen Schlachten durch: 1943 korrigierte der Oberste Gerichtshof seine eigenen früheren Urteile und hielt fest, dass niemand zum Fahneneid gezwungen werden darf.

Die Erfolgsgeschichte des „Pledge of Allegiance“ blieb davon unberührt. Sie hatte schon im 19. Jahrhundert begonnen, als etwa ab 1880 unter dem Eindruck neuer und fremd aussehender Einwanderergruppen aus Süd- und Osteuropa ein neuartiger Patriotismus und Flaggenkult um sich griff. Daraufhin verfasste ein Veteran des Bürgerkrieges, Oberst George Balch, die erste Version des Fahneneids, um Immigrantenkinder auf ihr neues Heimatland einzuschwören und ihre sprachliche und kulturelle Assimilation zu beschleunigen. In der Urversion lautete der Text, der rasch von vielen Schulen aufgegriffen wurde: „Wir schenken unsere Köpfe und unsere Herzen Gott und unserem Land. Ein Land! Eine Sprache! Eine Flagge!“ Francis Bellamy, ein baptistischer Prediger, schrieb 1892 – vierhundert Jahre nach der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus – die im Kern bis heute gültige Textversion.

 Im Ersten Weltkrieg gewann der Fahneneid eine neue Bedeutung: Jetzt wurde gerade von Deutschstämmigen ein klares Bekenntnis zu Amerika verlangt – der Fahneneid wurde zur Gewissens- und Loyalitätsprüfung für Einwanderer, gegen deren Herkunftsländer die Vereinigten Staaten nun Krieg führten. Eine neue patriotische Welle erfasste Amerika nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor und den Eintritt der Amerikaner in den Zweiten Weltkrieg. 1942 wurde ein Gesetz über den täglichen Fahneneid erlassen. Die bis dahin übliche Geste der amerikanischen Schulkinder, mit dem ausgestreckten Arm auf Augenhöhe auf die Fahne zu zeigen, wurde wegen der Ähnlichkeit zum Hitlergruß durch die Geste ersetzt, die rechte Hand aufs Herz zu legen.

1954 schließlich, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, fügte Präsident Eisenhower dem Fahneneid die Wendung „unter Gott“ hinzu, die sich lokal schon vielerorts etabliert hatte. Damit sollte dem „gottlosen Kommunismus“ die amerikanische Gottesfurcht entgegengesetzt werden. Beides, Patriotismus und Religiosität, ist bis heute mentalitätsprägend und unterscheidet die Vereinigten Staaten von den meisten anderen westlichen Ländern. Fast neunzig Prozent der Amerikaner glauben Umfragen zufolge an Gott. Fast genauso viele halten den morgendlichen Fahneneid für richtig.

Dr. Markus Günther, geboren 1965 in Bottrop, machte am Heinrich-Heine Gymnasium 1986 sein Abitur, studierte Geschichte und Politikwissenschaften, bevor er für verschiedene Zeitungen tätig war.  Er ist Autor der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und lebt in Washington, D.C.